Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Brot und Wahrheit – Leben und Licht. Einführung in das Evangelium nach Johannes   

Detlef Hecking im forum 24/2012

Das Johannesevangelium verkündet einen «anderen» Jesus als die übrigen Evangelisten.

 

Wenn man biblisch interessierte Christinnen und Christen nach ihren Lieblingsstellen im Neuen Testament fragt, dann werden oft Texte aus dem Johannesevangelium genannt: «Im Anfang war das Wort.»(1,1) – «Ich bin das Brot des Lebens.» (6,48) – «Ich bin der gute Hirt.» (10,11) – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» (11,25) gehören nicht nur zu den Höhepunkten neutestamentlicher Christologie, sie sind auch persönlich für viele Gläubige sehr bedeutsam.

Auch Erzählungen des Johannesevangeliums haben sich tief in die Herzen eingeprägt: Jesus, der bei der Hochzeit in Kana Wasser zu Wein verwandelt (2,1-12), die Auferweckung des Lazarus (11,1-44), die Fusswaschung beim letzten Abendmahl (13,1-20) oder die Begegnung Marias von Magdala mit dem vermeintlichen Gärtner am leeren Grab Jesu (20,1-18).

Diese und noch viele weitere Texte und Worte Jesu sind nur in diesem Evangelium zu finden. Dabei scheint das Johannesevangelium in ganz besonderer Weise auf die mystisch-spirituellen Bedürfnisse vieler Menschen zu antworten. Und auch Papst Benedikt XVI. hat das Johannesevangelium zum Dreh- und Angelpunkt seiner Jesus-Meditationen gemacht. Was macht dieses Evangelium so anders als die anderen Evangelien?

 

Der johanneische «Sonderweg»

Die Tatsache, dass das Neue Testament vier Schriften mit dem gleichlautenden Titel «Evangelium» enthält, lässt leicht übersehen, dass das Johannesevangelium im Vergleich zum Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium bedeutende Unterschiede aufweist.

Wenn wir beispielsweise in einem «Bewegungsprofil» verfolgen, wann und wo Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern unterwegs ist, sind sich Markus, Matthäus und Lukas einig: Jesus beginnt sein öffentliches Wirken in Galiläa. Dann geht er zum Pessach-Fest nach Jerusalem, wo er nach der Vertreibung der Händler aus dem Tempel gefangen genommen und hingerichtet wird.

Bei Johannes hingegen steht die Tempel-Szene in Jerusalem ganz am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu (2,13-25). Anschliessend reist er bereits vor der Passion immer wieder zu den jüdischen Festen von Galiläa nach Jerusalem und zurück. Dreimal ist alleine das Pessach-Fest erwähnt (2,13; 6,4; 11,55), je einmal das Laubhüttenfest (Sukkot, 7,2), das Tempelweihfest (Chanukka, 10,22) und zwei weitere, nicht näher bezeichnete Feste. Ausser dem letzten Pessachfest, das zur Passion führt, ist nichts davon bei Matthäus, Markus und Lukas erwähnt. Sind solche Unterschiede zwischen den sogenannt synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium nur unbedeutende Kleinigkeiten oder vielleicht Ungenauigkeiten, die wir bei der Lektüre vernachlässigen können? Keineswegs, denn gerade mit der Teilnahme an diesen Festen verleiht Johannes «seinem» Jesus ein ganz besonderes theologisch-christologisches Profil, das in den anderen Evangelien so nicht zu finden ist.

 

Erfüllung des Festkreises

Nach Johannes verdichtet sich die Heilsgeschichte Israels, die in den jüdischen Festen gefeiert wird, in Jesus von Nazareth auf ganz besondere Weise. Dies wird deutlich, wenn wir die entsprechenden Passagen vor dem Hintergrund der jüdischen Festbräuche lesen.

Während des einwöchigen Laubhüttenfestes (Sukkot) wurde beispielsweise am Jerusalemer Schiloach-Teich täglich ein goldener Kelch mit Wasser gefüllt, zum Tempel getragen und dort in einer besonderen Zeremonie Gott dargebracht. Bei Johannes spricht Jesus am letzten Tag des Laubhüttenfestes: «Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt…» (7,37). Die Anspielung auf den Festbrauch ist unübersehbar: Jesus bietet sich hier als Erfüllung Sehnsucht Israels an, die unter anderem auf die von Gott geschenkte und von Mose bewirkte Spendung von Wasser aus dem Felsen in der Wüste zurückgeht (Num 20,1-13).

Ein weiterer Festbrauch zum Laubhüttenfest bestand darin, dass der Tempel nachts durch goldene Leuchter und Fackeln grandios erleuchtet wurde, so dass es nach einer alten Überlieferung «keinen Hof in Jerusalem gab, der nicht widerstrahlte vom Licht». Ausgerechnet vor dieser Kulisse fällt nach Johannes am Laubhüttenfest das Jesuswort: «Ich bin das Licht der Welt.» (8,12)

Und den blind geborenen Mann, den Jesus später, immer noch während der Festtage, heilt, schickt er ausdrücklich zum bereits erwähnten Teich Schiloach, um sich dort zu waschen (9,7). Mit diesen Akzenten wird Jesus als Erfüllung des jüdischen Festkreises verkündet.

 

Innerjüdische Konflikte

Diese Perspektive wurde jedoch nur von den Anhängerinnen und Anhängern Jesu geteilt, die nach seiner Hinrichtung die innige Erfahrung machten, dass Jesus als Auferweckter bei Gott lebt, ihnen einen wirkungsvollen «Beistand» geschickt hatte (14,15-31; 16,4-15) und sie weiterhin mit «Leben in Fülle» beschenkte (10,10).

Die übergrosse Mehrheit des Judentums sah in Jesus dagegen nicht den besonderen Sohn oder gar das Fleisch gewordene Wort Gottes (1,14), sondern – bestenfalls – einen gescheiterten, von den Römern brutal hingerichteten Messiasanwärter, wie sie damals alle paar Jahre in Israel auftraten, dabei mal mehr, mal weniger Rückhalt im Volk hatten und Hoffnungen auf ein besseres Leben weckten.

Mit dieser Gleichgültigkeit «ihrem» Messias gegenüber konnten sich viele Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht abfinden. Immer wieder versuchten sie in den Synagogen, andere Jüdinnen und Juden von ihrer Sichtweise und ihrem Glauben zu überzeugen – meist vergeblich. Die Konflikte wurden im Laufe der Zeit so stark, dass ein Zusammenleben und Beten unter einem Synagogendach immer schwieriger wurden.

Als sich das Mehrheitsjudentum dann nach einem gescheiterten Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) allmählich von der Katastrophe erholte und seine Identität ohne Tempelkult und Priesterschaft neu finden musste, grenzte es sich auch von unliebsamen Randgruppen ab. Dabei wurden in einem für beide Seiten schmerzhaften Prozess die letzten Verbindungen zur jesus-messianischen Bewegung gekappt.

Ungefähr zwischen 90 bis 100 n. Chr. waren diese Konflikte offenbar besonders stark – und für die kleine, jesus-messianische Gemeinde, der wir das Johannesevangelium verdanken, besonders gefährlich. Denn mit dem Synagogenausschluss waren der Verlust sozialer und wirtschaftlicher Kontakte sowie eine verstärkte Gefährdung durch die römischen Autoritäten verbunden. Gerade deshalb fanden diese Konflikte auch ihren Niederschlag in dem Evangelium, das etwa zu dieser Zeit in der johanneischen Gemeinde entstand.

Mehrfach ist darin davon die Rede, dass Menschen aus der Synagoge ausgestossen werden (9,22.34f; 12,42; 16,2). Solche Bemerkungen haben nichts mit der Situation während des öffentlichen Wirkens Jesu zu tun (29/30 n. Chr.), aber umso mehr mit den bedrängenden Erfahrungen der johanneischen Gemeinde gut 60 Jahre später. Dieser Umstand hat auch zu der tragischen Tatsache geführt, dass im Johannesevangelium nur noch selten differenziert von den Pharisäern, Sadduzäern und Schriftgelehrten die Rede ist, die das Judentum zur Zeit Jesu prägten, sondern meistens pauschal und abwertend von «den Juden». Sie werden dadurch weit über die historischen Konflikte zwischen Jesus und den religiös-politischen Führungsschichten seiner Zeit hinaus zu fundamentalen Gegnern Jesu stilisiert – mit überaus tragischer Wirkungsgeschichte, die bis zur Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft führte.

 

Verherrlichter Christus

Die Konflikte mit dem Mehrheitsjudentum hatten erhebliche Auswirkungen auf den Zusammenhalt und die Theologie der johanneischen Gemeinde. Offensichtlich kehrten erhebliche Teile der Gemeinde ins Mehrheitsjudentum zurück (vgl. 6,66-69). Nach aussen grenzte man sich weitgehend ab: Weit deutlicher als in den anderen Evangelien wird bei Johannes zwischen einer Phase der öffentlichen, weitgehend vergeblichen Verkündigung Jesu (Kap. 1-12) und einer ausführlichen Belehrung der engsten Jüngerinnen und Jünger (Kap. 13-17) unterschieden.

Nach der ersten Phase wird eine ernüchternde Bilanz gezogen (12,37-50), bevor mit der Fusswaschungs-Erzählung (13,1-20) ein starkes Signal für die gegenseitige Liebe und Dienstbereitschaft gesetzt wird, die das Gemeindeleben nach innen prägen soll. Vom letzten Abendmahl im engeren Sinne erzählt Johannes praktisch nichts (13,2). Hätten wir nur das Johannesevangelium, wüssten wir nichts vom geteilten Brot und Wein und den «Einsetzungsworten».

Nach der Fusswaschung folgen eindringliche «Abschiedsreden» Jesu. Hier spricht, wie auch sonst oft in den sehr langen Jesusreden dieses Evangeliums, weniger der historische Jesus als die Christusmystik der johanneischen Gemeinde. Johannes verkündet, was die Gemeinde in ihrem Teilen von Leben und Glauben als die eigentliche Botschaft Jesu versteht. Dass sie sich damit in Inhalt und Sprache weit von den – in den synoptischen Evangelien wesentlich zuverlässiger überlieferten – Taten, Worten und der Gottesreichs-Verkündigung des historischen Jesus entfernt, war für sie nicht so wichtig. Denn für die johanneische Gemeinde stand in erster Linie ihr Zusammenhalt und ihr Überleben auf dem Spiel. Dazu hat ihre intensive Christusmystik zweifellos beigetragen.

Diese Christusmystik findet ihre besondere Ausprägung auch in der ausgesprochen «hohen» Christologie, welche dieses Evangelium vom ersten Kapitel an prägt. Jesus ist nicht nur Prophet, Bote und Abgesandter des Vaters, nicht «nur» Messias und Menschensohn wie in den synoptischen Evangelien, sondern Gottes Fleisch gewordenes Wort (1,14). – «Ich und der Vater sind eins.» (10,30).

Der Bibelwissenschaftler Klaus Wengst hat diese Zusammenhänge auf eine Kurzfassung gebracht: «Bedrängte Gemeinde – verherrlichter Christus.» Für jüdische Ohren allerdings wird damit der Monotheismus in Frage gestellt. Und es wäre interessant zu hören, was der historische Jesus selbst zu dieser Deutung seines Lebens zu sagen gehabt hätte.

 

Souverän in der Passion

In einer Lebenssituation, in der alles zu zerbrechen droht, findet die johanneische Gemeinde Halt an einem Christus, der in wahrhaft göttlicher Art die Herzen der Menschen mit allem Guten und Grossen, aber auch in ihren Winkelzügen durchschaut und selbst in der Passion souveräner Herr der Situation bleibt. Während Jesus im Markusevangelium im Garten Gethsemane zutiefst erschüttert um Verschonung bittet, an seinen schlafenden Jüngern verzweifelt und sich schliesslich in einer tumulthaften Szene in Gottes Hand und die Hand seiner Häscher gibt (Mk 14,32-52), «muss» der johanneische Jesus hier überhaupt nicht mehr beten – das hatte er sehr ausführlich bereits vorher getan (Joh 17).

Stattdessen geht Jesus seinem Schicksal in derart souveränem, herrschaftlichem Vorauswissen entgegen, dass der Festnahme-Trupp bestürzt zurückweicht und zu Boden fällt (Joh 18,1-11). Und wo Matthäus und Markus den Todeskampf Jesu mit dem verzweifelten Psalmgebet «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen» (Ps 22,2) und einem wortlosen Schrei wiedergeben (Mt 27,46.50; Mk 15,34.37), bleibt der johanneische Jesus bis in die Todesminute hinein gefasst: «Es ist vollbracht» (19,30).

Es geht in diesem Vergleich der Evangelien nicht um die Frage, was historisch «richtig» oder «falsch» ist. Alle vier Evangelien überliefern uns Glaubenszeugnisse, die – besonders in den Passionserzählungen – durch das Erste Testament inspirierte, heilsgeschichtliche Deutungen sind, was der Tod Jesu für die jeweilige Gemeinde bedeutet. Zentral ist deshalb, dass die jeweiligen Gemeinden des Markus, Matthäus, Lukas und eben Johannes auf je eigene Art Kraft aus ihrem Glauben an Jesus geschöpft haben. Das Johannesevangelium leistet dazu mit seiner ganz eigenen, manchmal eigenwilligen Christologie einen ungemein inspirierenden, lebendigen Beitrag – bis heute. So, wie es der johanneische Jesus sagt: «Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben.» (10,10)

 

Detlef Hecking

Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle

 

 

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