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Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel   

Buch des Monats Mai-Juni 2011

Es gibt Bücher, die sind einfach längst überfällig. Dazu gehört das neueste Werk des emeritierten Alttestamentlers Frank Crüsemann, der bis 2004 an der Kirchlichen Hochschule Bethel lehrte. Was er in diesem Buch unternimmt, ist nicht weniger, als den christlichen Umgang mit dem Alten Testament auf den Prüfstand zu stellen. Er tut dies in Konsequenz einer Entwicklung des christlich-jüdischen Gesprächs, das nach der Katastrophe der Schoah bestrebt war, die Ursachen dafür zu analysieren und entsprechende Handlungsperspektiven zu entwickeln.
Crüsemann zeigt sehr plausibel auf, wie unser Blick auf Jesus und das sogenannte «Neue Testament» immer schon von einer dogmatischen Entwicklung geprägt ist, die bestimmte Sichtweisen schon gar nicht mehr zulässt und vor allem auch den Blick auf die Texte selbst verstellt. So ist im christlichen Bewusstsein fast verloren gegangen, dass Jesus selbst sich unter die Tora gestellt und auch der Apostel Paulus seine Gemeinden gemahnt hat, «nicht über das, was in der Schrift steht, hinauszugehen» (1 Kor 4,6). Das hiesse aber, dass «die Schrift», die dann christlich zum «Alten Testament» geworden ist, bereits die ganze Wahrheit Gottes enthält und nicht etwa ihre «Wahrheit» erst durch den Blick vom «Neuen Testament» her offenbart.
Natürlich enthält eine solche These Sprengstoff. Das weiss auch Crüsemann. Und deshalb geht er mit den LeserInnen Schritt für Schritt einen Weg durch die verschiedenen Modelle der Zuordnung von Altem und Neuem Testament, die es in der Kirchengeschichte bereits gegeben hat und die alle in irgendeiner Weise von einer Überordnung des «Neuen» über das «Alte» ausgehen (Kap. I). Dies gilt auch für alle bisher vorgelegten Versuche einer biblischen Theologie (Kap. 2).
Seit dem 2. Weltkrieg aber hat sich im Bewusstsein der christlichen Kirchen dem Judentum gegenüber vieles dramatisch geändert. Eine Sichtweise, die das Judentum nur als eine Art «gescheiterte Vorläuferreligion» in den Blick nimmt, ist nicht mehr tragbar. Die Erkenntnis, dass Gottes Bund mit seinem Volk keineswegs «gekündigt» ist, sondern selbstverständlich fortbesteht, muss auch christlich theologisch eingeholt werden. So fragt man heute nicht mehr aus einer gesicherten Position des überlegenen Neuen Testaments nach dem Ort, den Altes Testament oder Judentum einnehmen dürfen, sondern man fragt aus der Perspektive des Alten Testaments, welcher Ort Menschen ausserhalb Israels überhaupt einzuräumen ist bzw., ob die angebliche Überlegenheit des Neuen über das Alte Testament überhaupt aus der Schrift heraus zu rechtfertigen ist. Dies wird heute von manchen Exegeten nämlich programmatisch bestritten: ein klarer Bruch mit der bisherigen Exegese (Kap. 3).
Crüsemann unterzieht nun das Neue Testament einer eingehenden Untersuchung, wie dort «die Schrift» gesehen wird. Er kann zeigen, dass in allen neutestamentlichen Schriften das Alte Testament durchgehend als vorgegebene «heilige Schrift» anerkannt wird und selbstverständlich Autorität hat. Nicht nur ist das Neue Testament durchgängig vom ersten bis zum letzten Vers auf das Alte bezogen, sondern überhaupt nur aus «der Schrift» verständlich. «Die Bibel Israels ist die Schrift, sie ist gültig und in Kraft, sie ist vorgegeben und wird bestätigt. Von einer Herabstufung, einer minderen Wahrheit, einem zweiten Rang kann nicht die Rede sein» (Kap. 4; hier: 136).
Crüsemann fragt nun: «Was ist das Neue im Neuen Testament?» (Kap. 5). Genauer: Worin sieht das Neue Testament selbst «das Neue»? Auf den ersten Blick scheint alles klar zu sein: neue Lehre, neuer Wein, neues Gebot, neue Schöpfung, neues Lied, neues Jerusalem … und last but not least neuer Bund. Allerdings wird bei dieser beeindruckenden Fülle von Neuem meist eines übersehen: «die Tatsache, dass ein grosser Teil der neutestamentlichen Aussagen über das Neue aus dem Alten Testament stammt» (154). Was das Neue Testament als das Neue bezeichnet, ist weithin genau das, was in «der Schrift» als das Neue bezeichnet bzw. erwartet wird! Die Rezeption der Verheissungen im Neuen Testament ist nicht von der alttestamentlichen Verheissung zu trennen oder gar gegen sie auszuspielen. Wo das passiert, wo also z. B. der neue Bund ekklesiologisch als Bund mit der christlichen Kirche (miss)verstanden wird, «muss diese Kirche antijüdisch werden und damit ihre eigenen Grundlagen verleugnen» (189).
Wie ist aber dann das Verhältnis zwischen dem Gott Israels, den Völkern und der Kirche zu sehen? (Kap. 6). An Gen 12,1-3 zeigt Crüsemann, dass der Segen Abrahams für die Völker für uns Christen nur zu der Frage führen kann, inwiefern wir an diesem «biblischen Gottesprojekt» teilnehmen können. «Nicht an uns bindet Gott seinen Segen, sondern an das Verhalten gegen Abraham und Sara und ihre Nachfahren» (198). «Volk Gottes» ist «die einzigartige Bezeichnung für eine einzigartige Grösse. Wird der Begriff ,Volk Gottes’ dagegen auf die christliche Kirche bzw. Gemeinde angewendet, wird er unvermeidlich zu etwas anderem. Er wird zu einer Metapher, zu einem Bild» (211). Es geht nicht an so zu tun, als würden Christen durch die Taufe automatisch in das «Volk Gottes» eingegliedert. Selbst da, wo die Taufe (noch) selbstverständlich der Geburt folgt, braucht es den individuellen Glauben. Gerade in unserer Situation, wo volkskirchliche Illusionen zunehmend verfliegen, wird der Begriff «Volk Gottes» «immer weniger geeignet, kirchliches Handeln zu bestimmen (212). Eine Neuausrichtung christlicher Kirche kann also – so verstehe ich Crüsemann – nur in einer Besinnung darauf wurzeln, was das «biblische Gottesprojekt» ausmacht: ein «Leben nach der Tora, als Ausdruck der mit Gott gegebenen Freiheit» (214). Jeder theologische Weg, der an dieser Geltung der Tora für die Christen vorbeiführt, verlässt damit auch den Boden des Neuen Testaments (223).
Aber ist nicht «Christus» das Spezifische christlichen Glaubens im Unterschied zum Judentum? (Kap. 7). Und liegt nicht da eine «Überschreitung des Judentums» vor? Hat Christus nicht die Verheissungen der Schrift «erfüllt»? Das üblicherweise mit «erfüllen» übersetzte griechische Verb pleróo bezieht sich bei Paulus aber niemals auf Verheissungen. Und auch in den sogenannten «Antithesen» der Bergpredigt des Matthäus bedeutet «Erfüllung» nichts anderes, als «einen Zaun um die Tora zu machen», wie dies die Rabbinen ausdrücken. Die alte Hoffnung der Schrift wird durch das, was Jesus lehrt und tut, aktualisiert und neu ins Recht gesetzt. Und auch bei Lukas – so zeigen neuere Unersuchungen, die die jüdischen Hintergründe des Evangeliums ernster nehmen – heisst «Erfüllung der Schrift» nichts anderes als die Feststellung, dass alles was mit Jesus (und seiner Nachfolgegemeinschaft) geschieht, sich im Raum der Schrift ereignet, diese selbstverständlich voraussetzt, bestätigt, bekräftigt und aktualisiert (248).
Selbst die Auferstehung Jesu (Kap. 8), die als Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens immer wieder als «das Neue» herhalten muss, bewegt sich nach einhelliger Bezeugung des Neuen Testaments im Raum der Schrift! «Was ,gestorben für’ und ,auferweckt’ heisst, ist nach der ältesten neutestamentlichen Tradition aus sich heraus nicht zu verstehen und trägt seinen Sinn nicht in sich selbst» (263). Um zu verstehen, worum es bei Jesu Auferstehung speziell ging, brauchte es die Schrift. Die Emmausgeschichte erzählt ja genau davon, dass da, «wo die Schrift so ausgelegt wird, dass sie vom Gott der Lebenden redet, das Herz brennt und die Wirklichkeit, die mit Auferstehung bezeichnet wird, gegenwärtig ist» (271). Die üblicherweise umgekehrte Behauptung, erst die neue Erfahrung der Auferstehung führe zu einem neuen Verständnis der Schrift, geht daran vorbei (272). Geradezu spannend zu lesen sind die Reflexionen Crüsemanns zum alttestamentlichen Auferstehungsglauben (275ff): «Nur wenn das, was das Alte Testament über Gott und Gottes Macht über den Tod sagt, wahr ist, nur dann und nur in dem dadurch eröffneten Raum kann auch das wahr sein, was über die Auferstehung Jesu erfahren und gesagt wurde. Dieses Geschehen kann die Fülle, von der die Schrift spricht, weder ersetzen noch auch nur in der Substanz verändern» (287).
Ein weiteres Kapitel (Kap. 9) widmet Crüsemann sodann den Präexistenzaussagen der Schrift. Die neutestamentlichen Texte zeigen ja schon selbst, wie um das Verhältnis des Messias zur weltlichen Macht, aber auch zu Gott gerungen wurde. Von der Schrift her ist klar, dass das Kommen des Messias mit politischen Hoffnungen und mit der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit verbunden wurde. Genauso eindeutig und offenkundig ist (historisch gesehen) aber auch, «dass dieser Jesus im Ganzen alles andere als messianisch gelebt, gehandelt und gewirkt hat, sondern gekreuzigt wurde und damit gescheitert ist. (…) Diesen Abgrund zwischen der messianischen Identifikation und der bedrückenden Realität überbrückt die Erhöhungschristologie (…). Ist er so bei Gott, kann er Messias genannt werden» (293). «Was in der Welt zur Durchsetzung des messianischen Projektes geschieht und was bis zu seiner vollen Durchsetzung geschieht, ist das Handeln des Gottes Israels und nichts anderes und nichts Zusätzliches» (300).
Im Schlusskapitel «Der Wahrheitsraum der Schrift und das neutestamentliche ,Jetzt’ des Heils» fasst Crüsemann schliesslich zusammen: Der messianische Glaube an Jesus Christus sieht nicht anders aus als die in der Schrift niedergelegte messianische Hoffnung des Judentums. «Christus ist zur Rechten Gottes, und die Feinde sind noch nicht unterworfen, das Stöhnen der Schöpfung bezeugt es. Was gegenwärtig ist, ist der Geist, und der hat die Gestalt der Hoffnung, ist nichts anderes als die Kraft der Hoffnung» (337). Und eben darin stünden wir mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern in der selben Blickrichtung: nach vorne.
Crüsemanns Denkanstösse haben Konsequenzen nicht nur für die Bibelwissenschaft und die Judaistik, sondern für christliche Theologie überhaupt. Würden sie ernst genommen, müssten Dogmatiken nicht nur mit ihrer Christologie, sondern auch der Pneumatologie und Eschatologie neu geschrieben werden. Und das alles «nur», weil da jemand wie Crüsemann «die Schrift» ernst nimmt. Man darf auf die Rezeption seiner Gedanken gespannt sein.

Dieter Bauer

Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, (Gütersloher Verlagshaus) Gütersloh 2011, 384 S., Geb., 29,95 € [D] / 44,50 CHF UVP, ISBN 978-3-579-08122-9

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