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Wer knackt den Code? Meilensteine der Bibelforschung   

Buch des Monats Oktober 2009

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Wer – wie ich – die Auseinandersetzung mit der Bibel spannend findet, wird auch dieses Buch ausgesprochen spannend finden. Es vereinigt die Portraits von 50 Persönlichkeiten, die massgeblich als Bibelforscher und –forscherinnen gewirkt haben. Und das ist keine Minute langweilig! Zwischen den (Geburts-)Jahren 1780 (Wilhelm Martin Leberecht de Wette) und 1959 (Martti Nissinen) bewegt sich das repräsentative Spektrum dieser BibelwissenschaftlerInnen. Und es nicht wirklich vergleichbar mit anderen Portraitsammlungen ähnlicher Art:
Zum einen liegt dem Buch eine Artikelserie im Berner Pfarrblatt zu Grunde. Das heisst: Kürze und Prägnanz sind gefordert. Die Autorinnen und Autoren – neben dem Herausgeber Thomas Staubli sind dies Detlef Hecking, Luzia Sutter Rehmann, Silvia Schroer, Esther Kobel und Markus Saur – haben jeweils nur zwei Seiten Raum, um das zu zeigen, was jeweils wichtig war. So entfaltet sich nicht nur ein spannender Überblick zu den Wandlungen in der Bibelwissenschaft, es zeigt sich ebenso eindringlich, dass die biblische Überlieferung kein steriles Erbgut, sondern lebendiges Ferment der Theologie ist.
Und selbst wenn man sich wie ich seit Jahren mit der Bibelwissenschaft auseinandergesetzt hat, ist es faszinierend, wie sich deren Entwicklungen nicht nur in den einzelnen Persönlichkeiten spiegeln, sondern auch in unterschiedlichen Ansätze, Methoden, Schwerpunkten und Motiven. Immer wieder gibt es Neues zu entdecken: Von der bahnbrechenden Entdeckung verschiedener Pentateuchquellen durch Julius Wellhausen und der «Entdeckung der Priesterschrift» durch Bernhard Duhm, womit sich Generationen von Theologietreibenden auseinandersetzen mussten, über die «Religionswissenschaftliche Schule» eines Hermann Gunkel, der unter anderem den Begriff vom «Sitz im Leben» geprägt hat, bis hin zu Albrecht Alt, den seine Aufenthalte im Heiligen Land zu einer modifizierten «Landnahmetheorie» und der «Entdeckung des Vätergottes» geführt haben und dem berühmt berüchtigten Rudolf Bultmann, der mit seinem Programm der «Entmythologisierung» allein schon viele verstörte, aber dann vor allem auch mit seiner Behauptung, der historische Jesus sei für seinen christlichen Glauben schlicht irrelevant, auf massiven Widerspruch stiess, liesse sich zwar alles – wenn auch nicht so kurz und prägnant – auch in anderen Kompendien der Bibelwissenschaft nachlesen.
Dieses Buch aber ist anders. Es nimmt ernst, dass die Bibelwissenschaft nicht ausschliesslich von deutschen protestantischen Männern vorangetrieben wurde, sondern auch von Katholiken und Frauen, auch von Schweizerinnen und Schweizern und Menschen ausserhalb des westeuropäischen Kontextes. So erfährt man z. B. von Hedwig Jahnow, die bereits zwischen den Weltkriegen Bahnbrechendes für die Bibelwissenschaft geleistet hat, bevor sie auf Grund der Nürnberger Rassengesetze – sie stammte aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie – in einem KZ ermordet wurde. Oder von Yeheskel Kaufmann, der als erster jüdischer Forscher historisch-kritische Exegese betrieb, und David Flusser, der zu einer Zeit jüdische Jesusforschung betrieb, als die meisten Jüdinnen und Juden noch total schockiert waren von den antisemitischen Exzessen in einem «christlichen» Europa.
Das Buch zeigt die unendliche Vielfalt von Methoden auf, mit denen sich die biblischen Texte erschliessen lassen. Immer wieder waren es gerade die BibelwissenschaftlerInnen, die der Theologie neue Impulse gaben. Sie stellten neue Fragen an den Text und erhielten immer wieder neue Antworten. Die Lektüre der fünfzig Portraits führt so auf ausgesprochen kurzweilige Art und Weise durch die Bibelwissenschaft und zeigt vor allem auf, dass die Bedeutung dieses Menschheitsbuches längst nicht ausgeschöpft ist, im Gegenteil. Auch weiterhin sind spannende Entdeckungen zu erwarten.
Erhard Gerstenberger, der die umfangreiche Einleitung zu den Portraits geschrieben hat (11-40), ist wohl wie kein anderer dafür geeignet, in die kritische Erforschung der Bibel einzuführen. Er hat einen guten Teil seines Lebens eben nicht im deutschsprachigen Raum verbracht, sondern in Nord- und Südamerika, was ihm eine grosse Weltoffenheit beschert hat und auch den nötigen Abstand, um die jeweiligen Entwicklungen angemessen würdigen zu können.
Meines Erachtens müsste dieses Buch zur Pflichtlektüre für alle Theologiestudenten gemacht werden. Auch mir als «Insider» hat sich noch manches erschlossen. Und jeder und jede, der/die Freude am kritischen Nachfragen bei biblischen Texten hat, wird dieses Buch sowieso mit Gewinn zur Hand nehmen.

Dieter Bauer

Thomas Staubli (Hg.), Wer knackt den Code? Meilensteine der Bibelforschung (Patmos Verlag) Düsseldorf 2009, 160 S., Geb., € 14,90 [D] / € 15,40 [A] / CHF 26,90 UVP; ISBN: 978-3-491-72542-3

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