Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Das Jesaia-Triptychon   

Peter Zürn zu den alttestamentlichen Lesungen im Advent im Lesejahr A, SKZ 46/2013

 

Ein Triptychon oder Drei-Tafel-Bild ist ein dreigeteiltes Gemälde. Es besteht aus einer Mitteltafel und zwei meist schmaleren Flügeln. Bei Altären kann man eine Alltagsseite (geschlossener Zustand) und eine Festtagsseite (geöffneter Zustand) unterscheiden. Die Aussenseiten sind meist schlichter gehalten. Bei mobilen Triptychen haben die Aussenseiten eine Schutzfunktion. Die Dreiteilung erlaubt eine Betonung von bestimmten Figuren oder Handlungen auf der Mitteltafel. Auf den Flügeln sind dann Nebenfiguren abgebildet. Es kann auch die zentral dargestellte Handlung mit vorausgehenden und nachfolgenden Szenen verknüpft werden. Die Leserichtung ist dabei zumeist von links nach rechts.

 

Soweit Wikipedia. Ich möchte die adventlichen Lesungen des Lesejahres A aus dem Buch des Propheten Jesaja als Triptychon lesen und auslegen. Die Idee dazu stammt aus dem Begleitheft für die Leitung des Lectio-Divina-Projekt des Bibelwerks zu den alttestamentlichen Lesungen des Lesejahres A (bestellbar unter www.bibelwerk.ch).

 

Die Lesungstexte des 2. und 4. Adventssonntages und der Heiligen Nacht bilden demnach einen «Dreiklang». Sie handeln von der Ankündigung, der Einsetzung und der Herrschaft eines neuen Messias- Königs und der sich dadurch verändernden Wirklichkeit der Menschen. Auf der mittleren Tafel steht die Lesung der Heiligen Nacht mit Geburt und Einsetzung des Messias, die linke Tafel bildet die Lesung des 4. Adventssonntag mit der Ankündigung des neuen Königs und die rechte Tafel die Lesung vom 2. Adventssonntag mit der Beschreibung seiner Herrschaft. Die Anordnung des Triptychons, ein logisches und sinnvolles Nacheinander von links nach rechts, wird also in der zeitlichen Anordnung der Leseordnung nicht mitvollzogen. Das Wirken des Messiaskönigs geht seiner Ankündigung voraus. Was kann das bedeuten?

 

Auf jedem Tafelbild gibt es drei durchgehende Elemente. Es ist jeweils von einem Zeichen die Rede, etwas wird mit Namen genannt – in Jes 7 und 9 geht es um den Namen des Königs, in Jes 11 um seine Begabungen – und schliesslich wird die Wirkung auf die Adressatinnen und Adressaten der Texte beschrieben. So ergibt sich folgendes Drei-Tafel-Bild:

 

Linker Flügel; Mittelflügel; Rechter Flügel
4. Advent; Heilige Nacht; 2. Advent
Jesaja 7,10–14; Jesaja 9,1–6; Jesaja 11,1–10
Ankündigung des neuen Königs vor der Geburt; Einsetzung, Geburt und Thronbesteigung; Herrschaft, das Wirken des neuen Königs
Zeichen: Die junge Frau wird dem Haus David einen Sohn gebären; Geburt des Nachfolgers und Herrschaftsantritt; Schössling aus dem Baumstumpf, junger Trieb
Name Immanuel – Gott mit uns; Thronnamen Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens
Begabungen 6 Geistesgaben (3 Paare) zur Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit und zur Eindämmung von Gewalt
Wirkung: König und Volk sollen vertrauen = hebr. Amen; Dem Volk im Dunkeln strahlt ein helles Licht auf; Man tut nichts Böses mehr, und alles erfüllt die Erkenntnis Gottes

 

Soweit die Lectio-Divina-Unterlagen. Es stellt sich natürlich die Frage, was mit den anderen beiden adventlichen Lesungen ist, der vom 1. und der vom 3. Advent. Lassen auch sie sich ins Triptychon einfügen? Wenn wir davon ausgehen, dass die drei beschriebenen Tafeln die Innentafeln sind, sind sie die Aussentafeln, und das Triptychon würde im geschlossenen Zustand so aussehen:

 

Linke Aussentafel; Rechte Aussentafel
1. Advent; 3. Advent
Jesaja 2,1-5; Jesaja 35,1–6a.10
Im Licht gehen; Verwandelt werden
Zeichen: Die Völker machen sich auf den Weg; Die Herrlichkeit (der Glanz) Gottes in der Wüste
Name: Das Haus Jakob; Die von Gott Befreiten
Wirkung: Das Volk Gottes bricht auf; Sagt den Verzagten: Fürchtet euch nicht!

 

Können wir aus der Anordnung der Lesungstexte in einem Triptychon etwas für die Deutung dieser Texte im Gesamtkontext der Adventszeit erfahren?

 

Die eher schlichten Aussentafeln haben bei Triptychen, die auf eine Reise mitgenommen werden können, eine Schutzfunktion. Jes 2 ist ein Weg-Text. Und das im mehrfachen Sinn. Er spricht davon, dass am Ende der Zeiten – im Urtext ist damit keine Endzeit gemeint, sondern ein künftiger, wenn auch noch ferner Tag in der Geschichte – sich viele Nationen und Völker auf den Weg zum Haus Gottes auf dem Berg Zion machen. Dort – oder bereits auf dem Weg dorthin, wollen sie lernen, auf den Pfaden Gottes zu gehen, d. h. nach den Weisungen Gottes, nach der Tora zu leben. Das wird dazu führen, dass sie Frieden lernen, statt für den Krieg zu üben. Das Bild vom Heiligen Berg, von dem die Paradiesströme wegfliessen, kehrt sich um; die Ströme der Völker fliessen den Berg hinauf zum paradiesischen Zustand des Friedens. Diese Lernwege der Völker sollen schliesslich das Haus Jakob, das Volk Gottes, motivieren, sich im Licht Gottes auf den Weg zu machen und in der Nachfolge der Völker ebenfalls Tora zu lernen. Das ist eine schlichte Botschaft für das Gottesvolk. Es geht nicht voran, sondern reiht sich ein, kommt vielleicht gar hinterher. Das Licht Gottes ist kein Scheinwerfer, der das Volk Gottes besonders hell erstrahlen lässt. Es zeigt aber klar: Es lohnt sich, auf die anderen zu schauen. Auch Jes 35 ist ein Weg-Text. Er handelt vom Unterwegssein in der Wüste und vom Rückweg der aus Verbannung Befreiten und aus dem Exil Erlösten nach Zion. Es ist ein neuer Exodus zurück in die Heimat, ins verheissene Land. Jes 35 ist ein schlichter Text. Keine Helden in strahlenden Rüstungen sind hier unterwegs, sondern versehrte, verwundete Menschen mit wankenden Knien und erschlafften Händen. Doch je mehr diese Verwundeten sich untereinander stärken und sich Mut zusprechen, desto mehr wird der Glanz Gottes sichtbar. Je mehr sie sich erinnern, dass sie die von Gott Befreiten sind, wird das geschehen. Dann wird die Wüste blühen und jubeln.

 

Die Leserichtung der beiden Aussenbilder stimmt mit der zeitlichen Einordnung der Lesungen im Advent überein. Links herrscht noch Stillstand im Haus Jakob, muss sich der Blick noch Vorbilder und Orientierung suchen. Rechts ist es aufgebrochen, in aller Unvollkommenheit und Versehrtheit. Von Gott befreit, auch von der Vorstellung, eine ideale Gesellschaft, ein Haus voll Glorie sein zu müssen. Und so, voranstolpernd und sich gegenseitig stützend, sind sie es: ein Haus voller Gottesglanz. Ö ffnen wir die Altarflügel und stellen an die inneren Bilder nur die eine Frage: Warum ist der 2. Adventssonntag rechts angeordnet? Warum hören wir früher, was doch erst später Wirklichkeit wird? Das erhoffte Leben, die andere Art des Miteinanders, die solidarische Gesellschaft ist nicht nur Verheissung, nicht nur Zukunft, nicht nur Utopie. Wir haben schon etwas davon erfahren. Wir leben, weil andere uns empfangen, uns auf die Welt bringen, uns berühren und ansprechen, uns Raum geben und mit uns in Beziehung gehen. Vielleicht nur rudimentär, vielleicht neben unendlich viel Leid und Gewalt. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich gegenseitig zum Leben dienen können. Das kommt zuerst. Darin gründet alle Sehnsucht nach mehr. Darin wurzeln alle Verheissungen. Daraus wachsen alle jungen Triebe neuen Lebens.

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